Redaktion: Herr Meyer, ist das Thema KI ein durch ChatGPT ausgelösten Modethema oder verbirgt sich dahinter ein Veränderungsprozess, dem die Unternehmen sich nicht verschließen können?
Jens-Uwe Meyer: ChatGPT zeigte vielen Personen und Organisationen auf eine sehr plakative Weise, was heute technologisch im KI-Bereich bereits möglich ist. Das allgemeine Zugänglichmachen des Chatbots sorgte bei ihnen für einen „Wow-Effekt“ in Sachen künstliche Intelligenz. Das heißt aber nicht, dass sie alle Implikationen des Themas bereits verstanden haben.
Redaktion: ChatGPT war nur der „Dosenöffner“? Was meinen Sie damit?
Jens-Uwe Meyer: Lassen Sie mich das mal mit dem Smartphone vergleichen. Als dieses 2006 auf den Markt kam, dachten auch viele „Wow, was für ein smartes Tool“. Kein User hatte damals aber schon im Blick, wie stark die heutige Omnipräsenz dieses Tools, unsere Art zu leben, miteinander zu kommunizieren und uns zu informieren, verändern würde.
Redaktion: Auch weil dieser tragbare Computer im Westentaschen-Format erst den Siegeszug der Social Media ermöglichte.?
Jens-Uwe Meyer: Ja. Ähnlich verhält es sich mit dem Thema Künstliche Intelligenz. Die meisten Personen und Organisationen – auch die aktiven ChatGPT & Co-User – erahnen heute noch nicht, welche verändernde Kraft noch in der künstlichen Intelligenz ruht. Sie wird aus meiner Warte in den kommenden Jahrzehnten der größten Changetreiber in unserer Wirtschaft und Gesellschaft sein.
Redaktion: Neben dem Klimawandel?
Jens-Uwe Meyer: Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Vielleicht befeuern sich die beiden Themen ja auch wechselseitig. Auf alle Fälle wird aber bei vielen Unternehmen, die den Megatrend KI verschlafen, künftig das Licht ausgehen.
Redaktion: Welche Branchen werden hiervon am stärksten betroffen sein?
Jens-Uwe Meyer: Die Frage lautet eher: Welche Branche ist mittel- und langfristig nicht vom Thema KI-Anwendung betroffen? Mir fällt keine ein! Kurzfristig ist der Veränderungsdruck vor allem bei Dienstleistungsunternehmen wie Unternehmensberatungen, Anwalts-/Steuerkanzleien sowie Planungsbüros, aber auch Banken und Versicherungen groß; außerdem in allen Unternehmensbereichen, in denen es eine Vielzahl von Daten zu erfassen, evaluieren und effektiv zu nutzen gilt, wie zum Beispiel den Marketing- und Controllingbereichen. Aber auch in der Produktion übernehmen zunehmend KI-Systeme bisher menschliche Tätigkeiten, weil sie schlicht effektiver sind. So zum Beispiel bei der Qualitätskontrolle. Doch dies ist erst der Anfang. KI-R-A wird ein sehr starker Changetreiber sein.
Redaktion: Warum?
Jens-Uwe Meyer: Weil insbesondere aus der Verbindung der künstlichen Intelligenz mit der Robotik und Automatisierung, kurz KI-R-A genannt, für die Unternehmen ganz neue Möglichkeiten erwachsen. Bisher ging es bei der Digitalisierung und Automatisierung primär darum, einzelne Tätigkeiten und Teilprozesse zu effektivieren; mit KI-R-A können jedoch ganze Geschäftsprozesse neu gestaltet und teils sogar ganz neue Geschäftsmodelle entwickelt werden.
Redaktion: Können Sie dies näher erläutern?
Meyer: Nun, auch heute wird die Digitaltechnik beziehungsweise KI in vielen produzierenden Unternehmen schon zum Optimieren der vorhandenen Automatisierungs- und Robotiklösungen genutzt. Deshalb ist es keine Utopie mehr, dass in naher Zukunft KI-Lösungen in den Unternehmen nicht nur deren neue Produkte entwickeln, sondern auch deren Produktion steuern und die Auslieferung an die Kunden managen; außerdem den Einsatz dieser Problemlösungen beim Kunden monitoren und effektivieren.
Redaktion: Also online zum Beispiel die Maschinen und Geräte steuern und warten?
Jens-Uwe Meyer: Ja. Dank KI-R-A ist das heute schon partiell Realität. Und dieser Automatisierungsprozess wird sich durch die selbstlernenden KI-Systeme mit einer immer schnelleren Geschwindigkeit fortsetzen.
Redaktion: Mit welchen Konsequenzen?
Jens-Uwe Meyer: Unter anderem einer radikalen Effizienzsteigerung. Aufgaben, die bislang Wochen oder Monate in Anspruch nahmen oder aus Effizienzgründen gar nicht wahrgenommen wurden, werden mit Hilfe der KI-Lösungen binnen Minuten erledigt sein – und zwar ohne menschliche Unterstützung. Das macht vielen Menschen Angst, denn sie befürchten: Dann entfällt mein Arbeitsplatz. Das wird teilweise der Fall sein. Doch nicht nur aus unternehmerischer, sondern auch gesellschaftlicher Sicht ist die Automatisierung schlicht notwendig.
Redaktion: Warum?
Jens-Uwe Meyer: Aufgrund des demografischen Wandels und Fachkräftemangels müssen viele Aufgaben schlicht automatisiert werden, damit sie überhaupt noch in einer hohen Qualität erbracht werden können und bezahlbar bleiben?
Redaktion: Warum benutzen Sie in Ihrem Buch in Zusammenhang mit der KI beziehungsweise KI-R-A den Begriff „fast disruption“ statt Change und Transformation?
Jens-Uwe Meyer: Wegen der Schnelligkeit und Radikalität, der von den KI-Lösungen oft bewirkten Veränderungen. Nehmen Sie ChatGPT. Dieser Chatbot ist das am schnellsten sich verbreitende Digitalprodukt aller Zeiten. Heute, knapp ein Jahr nach dem Freischalten des Programms arbeiten bereits Hunderte von Millionen Menschen weltweit mit dieser Art generativer künstlicher Intelligenz. Sie lassen sich Webseiten entwickeln, Texte schreiben sowie Computercodes analysieren und verbessern und sind in der Regel nicht nur begeistert davon, wie schnell der Chatbot diese Aufgaben löst, sondern auch wie einfach dessen Nutzung ist. Diese Einfachheit sorgt für eine schnelle Verbreitung.
Redaktion: Ist den Unternehmensführern bereits bewusst, vor welchen tiefgreifenden Veränderungen ihre Unternehmen angesichts des verstärkten KI-Einsatzes bzw. von KI-R-A stehen?
Jens-Uwe Meyer: Ich schätze, etwa zehn Prozent von ihnen ja und sie sehen auch den dringenden Handlungsbedarf. Die meisten haben das Ausmaß der Veränderung aber noch nicht erkannt. Und mehr als die Hälfte von ihnen glauben noch: Das Thema künstliche Intelligenz ist für uns nicht relevant.
Redaktion: Und wie schaut es mit der Kompetenz aus, die erforderlichen Transformationsprozesse in ihrer Organisation zu initiieren, zu planen und zu steuern?
Jens-Uwe Meyer: Die zehn Prozent, von denen ich gerade sprach, wissen, dass der Übergang in eine KI-dominierte Wirtschaft unumgänglich ist und hierfür teils neue Kompetenzen erforderlich sind. Also investieren sie auch Zeit und Geld in Weiterbildungen und die Entwicklung von KI-Strategien. Gravierende Defizite bestehen aber bei den Unternehmen, die dem Thema KI eher abwartend-reserviert gegenüberstehen, was insbesondere bei Mittelständlern häufig der Fall ist. Sie laufen Gefahr, den Anschluss zu verlieren.
Redaktion: Was sollten die Entscheider speziell im Mittelstand tun, um selbst fit für den Wandel zu werden?
Jens-Ute Meyer: Sie sollten, falls noch nicht geschehen, einfach mal solche Programme wie ChatGPT oder Google Bard ausprobieren und mit ihnen Experimente durchführen. Meine Empfehlung lautet: „Lassen Sie sich von ihnen beispielsweise mal eine Arbeitsanweisung schreiben oder anhand hochgeladener Daten eine Strategie oder einen Businessplan erstellen.“ Wenn Entscheider das tun, sind sie in der Regel von Ergebnissen positiv überrascht. Das bewirkt oft ein Umdenken und sie beginnen darüber nachzudenken, inwieweit ließe sich durch den KI-Einsatz die Arbeit in gewissen Bereichen unseres Betriebs effektivieren oder gar revolutionieren.
Redaktion: Was sollten die Entscheider tun, um die nötigen Transformationsprozesse in ihrer Organisation in Gang zu setzen?
Jens-Uwe Meyer: Wichtig ist das Entwickeln einer KI-Roadmap. Im ersten Schritt gilt es dabei, die möglichen Potenziale für eine Automatisierung mit Hilfe der KI zu identifizieren. Hierfür hat mein Unternehmen ein Analyse-Tool entwickelt, von dem es auch eine kostenlose Testversion gibt. Im nächsten Schritt geht es dann darum, die Potenziale zu konkreten Anwendungsfällen weiterzuentwickeln, Ziele zu definieren und Teams aufzubauen. Ein strukturiertes, zielorientiertes Vorgehen hierbei ist gerade bei Mittelständlern wichtig, weil ihre Ressourcen meist viel begrenzter als die von Konzernen sind.
Redaktion: Wie wichtig ist es dabei, eine Vision zu haben, wohin das Unternehmen sich entwickeln und welche Ziele es erreichen möchte?
Jens-Uwe Meyer: Extrem wichtig; auch um möglichst wenig Zeit zu verschwenden. Denn während zurzeit die einen Unternehmen noch überlegen, ob sie sich mit dem Thema KI überhaupt befassen sollen, nutzen andere diese bereits, um ihre Prozesse zu automatisieren.
Redaktion: Wie kann diese Vision entwickelt werden?
Jens-Uwe Meyer: Zunächst einmal sollte man das Thema KI nicht zu einer „Raketenwissenschaft“ hochstilisieren. Man sollte sich ihm vielmehr mit einem ähnlich nüchternen Blick wie der Investition in Maschinen nähern. Am Anfang steht also stets ein Business Case; also die Überlegung, welchen Nutzen könnte unser Unternehmen aus einem KI-Einsatz ziehen: Wo werden Prozesse effizienter? Wo erhöht sich die Qualität? Wo bauen wir strategische Wettbewerbsvorteile auf? Die Antworten auf solche Fragen bilden die Basis für die Entwicklung einer Vision. In Beratungen empfehle ich Unternehmern und Führungskräften oft: „Stellen Sie sich einmal vor, Ihr Unternehmen bzw. Unternehmensbereich würde vollautomatisiert funktionieren. Was müsste passieren, welche Entscheidungen müssten getroffen werden, damit von A bis Z – beispielsweise vom Auftragseingang bis zur Zustellung – alles vollautomatisch abläuft?“ Das Ergebnis dieses Gedankenspiel ist meist unrealistisch, weil so viel Automatisierung aktuell weder technologisch möglich ist, noch beschäftigten- und kundenfreundlich wäre. Es entsteht jedoch eine Vorstellung davon, in welche Richtung sich das Unternehmen entwickeln wird. Von dieser Vision ausgehend, können dann kleinere Projekte und Entwicklungsziele definiert werden.
Redaktion: Was sind die größten Stolpersteine beim Realisieren der Version und Erreichen der damit verbundenen Ziele?
Jens-Uwe Meyer: Der größte Stolperstein ist die Unternehmenskultur. Aktiv werden beziehungsweise sich auf den Weg begeben, bedeutet gerade bei mittelständischen Unternehmen in der Regel nicht, zunächst einige KI-Experten einzustellen oder gar eine KI-Abteilung aufzubauen. Mitunter genügen ein, zwei Schulungen und einige Prozess-/Strukturänderungen und schon können erste KI-Anwendungen im Betriebsalltag eingesetzt werden. Es können also erste Piloten – auch zum Kompetenzaufbau – gestartet werden. Doch auch das muss geplant und evaluiert werden, um danach eventuell die nächsten Schritte zu gehen.
Redaktion: Wird es in dem durch die KI beziehungsweise KI-R-A ausgelösten Transformationsprozess auch Verlierer geben?
Jens-Uwe Meyer: Na klar; ebenso wie dies auch bei der bisherigen Digitalisierung und Automatisierung der Fall war. Der Unterschied ist jedoch: Wer zu den Gewinnern und Verlierern zählt, wird schneller sichtbar werden und die Konsequenzen von Versäumnissen werden nachhaltiger als früher sein.
Redaktion: Warum?
Jens-Uwe Meyer: Die Unternehmen, die in der Vergangenheit nicht zu den „early birds“ im Digitalisierungsbereich zählten, also eher Nachzügler waren, konnten Versäumnisse meist noch kompensieren. Das hat sich verändert. Denn schauen Sie nur mal, wie viel sich, seit die ersten Pressemeldungen über ChatGPT im Dezember 2022 erschienen, beim KI-Einsatz bereits geändert hat. Das zeigt: Das Tempo der Veränderung bzw. Transformation ist rasant gestiegen. Deshalb wird sich auch schneller zeigen, welche Unternehmen zu den Gewinnern und Verlierern des verstärkten KI-Einsatzes in der Wirtschaft und Gesellschaft zählen.